Klein Venedig
Das mittelalterliche Gerberviertel von Balingen
wird heute als Klein Venedig bezeichnet. Es
liegt auf einer kleinen, künstlich geschaffenen
Insel, die durch den Bau des Mühlkanals im 14.
Jahrhundert entstanden ist. Nachdem Balingen
Teil von Württemberg geworden war, wurde vor
der östlichen Stadtmauer ein größeres
Gewerbe- und Handwerkerviertel entwickelt.
Hier arbeiteten Gewerke, die Wasser für ihr
Handwerk benötigten: Müller, Färber und
Gerber. Da vor allem das Gerben des Leders
sehr streng roch und der Wind meist aus dem
Westen wehte, störte der Gestank hier am
östlichen Ende der Stadt die übrigen Bewohner
am wenigsten.
Jahrhundertelang prägten Müller, Färber und
Gerber die Wirtschaft von Balingen. Durch die
ansässigen Gerber siedelten sich weitere Zünfte
an: Schlachter waren quasi „Zulieferer“ und die
Schuhmacher nutzten die Tierhäute der Gerber
zur Weiterverarbeitung. Es entstand eine
produktive und erfolgreiche Wirtschaftskette.
Im Mittelalter und der Neuzeit gab es
grundsätzlich drei verschiedene Gerbverfahren:
I. Die Rot- oder Lohgerber stellten aus
Tierhäuten dicke Ledersorten her. Diese wurden
für Sättel, Schuhe, Schuhsohlen oder
Zaumzeug genutzt. Die Tierhaut bearbeitete
man mit Laugen aus gemahlener Eichenrinde.
II. Die Weißgerberei nutzte die Salzgerbung mit
Alaun. Alaun ist ein Salz aus Kalium und
Aluminium. Mit diesem Verfahren konnten sie
aus Kalbs-, Schafs- oder Ziegenhaut dünnere
und damit edlere Lederarten fertigen.
III. Die Sämischgerberei verwendete Fett oder
Tran, um wasserfestes Leder herzustellen.
Der Mühlkanal war im Mittelalter deutlich
länger und ist heute nur noch teilweise
erhalten. Der Name deutet es schon an,
entlang des Mühlkanals standen mehrere
Mühlen. Heute sind die Mühlen aus dem
Stadtbild verschwunden, die Fundamente
mehrerer Mühlen wurden archäologisch
nachgewiesen.
In den späten 1990er Jahren waren die
Gebäude des Gerberviertels zum Großteil in
einem sehr schlechten Zustand, sodass es zum
Abriss vieler Gebäude kam, teils auch von
massiven Protesten begleitet. Heute ist nur
noch ein altes Gerberhaus erhalten: das Haus
„Mühlkanal 25“ stammt noch aus der Zeit, als
es hier sehr geschäftig zuging. Bis Mitte des 20.
Jahrhunderts befand sich hier eine Gerberei.
Wenn einem die Felle davonschwimmen…
Die Redewendung hat ihren Ursprung in der
mittelalterlichen Gerberei. Damals wurden die
Tierfelle vor dem Gerben in Flüssen
eingeweicht. Manchmal (z.B. durch
Unachtsamkeit oder Hochwasser) passierte es,
dass wertvollen Felle davontrieben.
Die Redewendung drückt daher aus, dass
jemand etwas wichtiges (Chancen oder
Ressourcen) verliert - ähnlich wie die Gerber,
denen die Felle im wahrsten Sinne des Wortes
davonschwammen.