jüdisches Leben

In den 1920er Jahren bot das Ammerland, zu dem auch Westerstede gehört, fruchtbaren Boden für den Aufstieg der Nationalsozialisten. Die Region war landwirtschaftlich geprägt. Damals litten viele landwirtschaftliche Betriebe unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise und den damit verbundenen Absatzproblemen. Ein Großteil der Bauern war hoch verschuldet und die Agrarpreise sanken. Man gab der jungen Weimarer Republik die Schuld für diesen Missstand. Konservativ-nationalistische und protestantische Traditionen verstärkten die Abneigung gegen das parlamentarische System. Die NSDAP verstand es, genau hier anzusetzen: Sie versprach nationale Stärke, Ordnung und eine Besserstellung der Landbevölkerung. Durch eine aktive Parteiorganisation, die sich früh in das Vereinsleben und den Alltag der Menschen einschaltete, gelang es den Nationalsozialisten, im Ammerland bereits Ende der 1920er Jahre überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse zu erzielen. Während die NS-Ideologie in Westerstede immer mehr Anhänger fand, verschlechterte sich die Lage für die jüdische Gemeinde dramatisch. Jüdische Familien haben über Generationen hinweg im Ort gelebt, Handel und Landwirt- schaft betrieben und einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben geleistet. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 setzte eine systematische Ausgrenzung ein: Geschäfte wurden boykottiert, berufliche Tätigkeiten verboten und die jüdischen Einwohner diffamiert. Hier in der Poststraße 7 lebte Karl Polak. Er hatte drei Kinder (Anna, Erich und Alfred), verdiente seinen Lebensunterhalt als Viehhändler und engagierte sich im Turnsport bzw. Turnverein. 1895 begründete er den TV „Jahn“, in dem weitere Familienmitglieder und viele jüdische Bürger Westerstedes aktiv waren. Da landesweit viele Turnvereine von jüdischen Bürgern gegründet wurden, wurden viele von ihnen um 1933 aufgelöst und neue Vereine gegründet, die jüdische Mitglieder ausschlossen. Einer seiner Söhne, Alfred Polak, war zunächst im TV „Jahn“ erfolgreich und konnte noch seinen Sieg im Weitsprung bei den Reichsmeisterschaften 1935 feiern, ehe er 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde. Sein Bruder Erich Polak führte später das Geschäfts seines verstorbenen Vaters weiter. Aufgrund des Boykotts jüdischer Händler und der Diffamierungen sah er sich gezwungen, das Land zu verlassen und sein Elternhaus zu verkaufen. Es gab mehrere Interessenten, unter anderem die Stadt, die ein schönes Gebäude für den Reichsarbeitsdienst suchte. Die Stadt wollte allerdings nicht viel Geld ausgeben, konstruierte Steuerschulden, setzte prompt die Zwangsversteigerung an und kam so günstig in den Besitz des Gebäudes. Andere jüdische Familien aus Westerstede hatten weniger Möglichkeiten: viele flohen unter großen Entbehrungen, andere wurden entrechtet, enteignet oder später deportiert. Mit der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verlor Westerstede nicht nur einen Teil seiner kulturellen Vielfalt, sondern auch wirtschaftliche Kraft. Händler, Handwerker und Geschäftsleute, die über Generationen das Stadtleben geprägt hatten, fehlten plötzlich. Das jüdische Leben in Westerstede, das einst ein fester Bestandteil der Gemeinschaft war, wurde durch die nationalsozialistische Ideologie ausgelöscht. So zeigt sich im Beispiel Westerstedes in konzentrierter Form, wie eng der Aufstieg der NSDAP mit wirtschaftlicher Not, politischer Propaganda und tief verwurzelten Vorurteilen verbunden war und wie dieser Aufstieg zur Zerstörung jüdischer Existenz und zur Verarmung des städtischen Lebens führte.